#scheunenviertel

  • „Hauptstadt des Verbrechens“
    https://anwaltsblatt.berlin/hauptstadt-des-verbrechens-2

    Bemerkenswert: Verbrechen als Krankheit, von der Verbrecher befallen werden.

    Von Julia Steinmetz - Zeitreise zu den historischen Gerichts- und Gefängnisgebäuden der 1920er-Jahre.

    Schon der Treffpunkt der Reisegruppe, bestehend aus Mitgliedern des Berliner Anwaltsvereins und des Richterbunds, war am 14. Juni um 16 Uhr ein historischer: der #Tränenpalast an der #Friedrichstraße. Von dort aus sollte das diesjährige Sommerhighlight, die „Krimitour durch Berlin“, organisiert durch den Berliner Anwaltsverein, starten. Aufgrund einer kleinen Busverspätung (der Berliner Verkehr) stellen die beiden Referenten Arne Krasting und Alexander Vogel vor dem Einstieg in den Bus sich und auch die Idee zur gemeinsamen Tour vor.

    Arne Krasting ist Historiker und Autor zweier Bücher. Sein erstes Buch „Fassadengeflüster. Berliner Bauten der Weimarer Republik“ erschien 2021. Gemeinsam mit dem Juristen Alexander Vogel veröffentlichte er 2022 das Buch „Justizgeflüster. Gerichte und Gefängnisse in Berlin“. Um Letzteres sollte es bei der Kriminaltour gehen, in der ein Blick auf die „dunkle Seite“ von Berlin, auch inspiriert von der Kultserie „Babylon Berlin“, geworfen werden sollte. Die Gegend um den #Bahnhof_Friedrichstraße schien hierfür der optimale Startpunkt, war sie doch in den 1920er-Jahren ein Ort des Amüsements, aber auch der Kriminalität und Prostitution mit zahlreichen Theatern und Bars in der Nähe.

    „Die Geschichte Berlins ist eine Geschichte von Kriminalität“

    Die Tour beginnt mit dem zwischenzeitlich eingetroffenen Reisebus, welcher im Inneren mit großen Bildschirmen ausgestattet ist, auf denen die Referenten untermalendendes Bild- und Videomaterial zeigen. Passend zur Fahrt über die Berliner Friedrichstraße und der Straße #Unter_den_Linden berichten die Referenten von der Diebstahlsgeschichte der Quadriga auf dem #Brandenburger_Tor sowie über die weithin bekannte Geschichte des Betrügers Friedrich Wilhelm Voigt, dem Hauptmann von Köpenick. Vorbei an der #Marienkirche, die im 13. Jahrhundert das Zentrum des mittelalterlichen Berlins darstellte und damals Schauplatz eines berüchtigten Lynchmordes wurde, der einen päpstlichen Bann über Berlin nach sich zog und erst nach Zahlungen und dem Aufstellen eines Sühnekreuzes wieder aufgehoben wurde, geht es zum #Alexanderplatz. Vogel macht schon zum Beginn der Tour deutlich: „Die Geschichte Berlins ist eine Geschichte von Kriminalität“.

    DER ALEXANDERPLATZ – SCHON VOR 100 JAHREN EIN KRIMINALITÄTSHOTSPOT

    Da gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Kriminalität um den Alexanderplatz immer mehr zunahm, wurde 1890 genau dort das große neue Polizeipräsidium von Berlin gebaut, welches sich vorher am #Molkenmarkt befunden hatte. In das neue Gebäude zog auch der berühmteste Kommissar der Zeit ein: Ernst Gellert, auch der „Buddha vom Alex“ genannt. Er leitete die erste modern arbeitende Mordkommission und erfand, laut Vogel und Krasting, die Tatortarbeit. Auch neu war ein Fernsehformat, was in den zahlreich eröffnenden Berliner Fernsehstuben ab 1935 gezeigt wurde. In „Die Polizei bittet um Mithilfe“ zog Gellert die Bevölkerung in seine Ermittlungsarbeit ein; ein Format, was auch heute noch im Fernsehen zu finden ist. Nach der Fahrt rund um den Alex kommt die Reisegruppe in der #Littenstraße an. Ziel ist hier das Gerichtsgebäude, der sogenannte „Justizpalast“, der 1904 fertiggestellt wurde. Der Architekt des Gebäudes, so erklärt Krasting, sei Otto Schmalz, der für die Architektur vor allem Elemente des Rokokos und des Jugendstils gewählt habe, darüber hinaus gebe es viele Einzelheiten, die Krasting den Teilnehmenden vor Ort und anhand von Bildern erläutert. Nachdem alle Teilnehmer wieder sicher im Bus sitzen, geht die Fahrt über den #Straußberger_Platz, im Mittelalter der als „#Rabenstein“ bekannte Hinrichtungsplatz vor den Toren Berlins, weiter in das #Scheunenviertel.

    DAS VERBRECHERVIERTEL DER 20ER-JAHRE

    Vogel erklärt, dass die Gegend in den 1920er-Jahren der Ort des organisierten Verbrechens in Berlin gewesen sei und daher auch in „Babylon Berlin“ immer wieder Ort des Geschehens ist. In den sogenannten Ring-Vereinen, die ursprünglich gemeinnützige Organisationen zur Wiedereingliederung von Strafgefangenen und ehemaligen Häftlingen sein sollten, entwickelten sich damals kriminelle Strukturen und Verbrecherbörsen. Ort der Planung für die nächsten Coups waren oft Bars und Kneipen wie die „Mulackritze“, in der sich Gestalten wie „Muskel- Adolf“ oder Adolf Leu (der Schränker) trafen.

    „In den sogenannten Ring-Vereinen entwickelten sich damals kriminelle Strukturen und Verbrecherbörsen“

    Wie sehr Verbrechen und Tod zu dieser Zeit zum Alltag der Bevölkerung dazugehörten, wird auch in der #Hannoverschen_Straße 6 deutlich, dem ehemaligen Leichenschauhaus. Hier war es laut Vogel in den 1920er-Jahren üblich, am Sonntag zur Leichenschau zu kommen, in der unbekannte Opfer von Tötungstaten hinter Glasfenstern ausgestellt wurden, damit Besucher diese identifizieren konnten.

    RUND UM DIE LEHRTER STRASSE

    Ziel der letzten Station der Tour sollte die Gegend um die #Lehrter_Straße sein, in der seit den 1840er-Jahren verschiedene Gefängnisgebäude entstanden waren, die heute nur noch teilweise bestehen. An das große Zellengefängnis in der Lehrter Straße erinnert nur noch der Geschichtspark Zellengefängnis #Moabit, der 2006 eröffnet wurde. Kriminalität wurde 1840 als ansteckende Krankheit angesehen, sodass Ziel des damaligen Gefängnisneubaus die Unterbringung der Gefangenen in Einzelzellen war, in der zwischenmenschliche Kommunikation nicht möglich sein sollte. Auch beim einstündigen Freigang am Tag kamen die Gefangenen durch die panoptische Architektur niemals mit ihren Mithäftlingen in Kontakt. Diese unmenschliche Art der Unterbringung bestand bis 1910. Nach dem Attentat auf Adolf Hitler 1944 wurden in dem Gefängnis verdächtigte Beteiligte festgehalten, unter anderem Albrecht Haushofer und Klaus Bonhoeffer, die im April 1945 dort erschossen wurden. Ersterer schrieb während seiner Gefangenschaft die „Moabiter Sonette“, 80 Gedichte, die heute im Park in einer nachempfundenen Zelle über Lautsprecher vorgelesen werden.

    Zu Fuß ging es zum Schluss noch zum ehemaligen Frauengefängnis in der #Lehrter_Straße 60, in dem von 1945–1985 weibliche Gefangene aus Westberlin untergebracht waren. Ursprünglich war dieses Gebäude eine Militär-Arrestanstalt, nach dem Ersten Weltkrieg ein Gefängnis für Männer ohne Militärgerichtsbarkeit, in dem auch Kurt Tucholsky einsaß. 1973 und 1975 gelingt weiblichen Gefangenen zweimal der spektakuläre Ausbruch aus dem Gefängnis, sodass anschließend ein neues Frauengefängnis in Berlin-Charlottenburg gebaut wurde. Seit 2012 steht das Gebäude leer. Zukünftig geplant sei hier, laut Krasting, Proberäume für Musiker und Kunstateliers unterzubringen. Zudem diente das ehemalige Gefängnis als Drehort für „Babylon Berlin“.

    Auf dem Weg zurück zur Friedrichstraße und somit dem Endpunkt der gemeinsamen Tour erzählten die Referenten noch einen letzten Fall: die „Pleiten, Pech und Pannen-Karriere“ der Gebrüder Sass, Einbrecher, die als erstes auf die Idee kamen, Geldschränke nicht mehr aufzustemmen, sondern aufzuschweißen. Gegen 18:30 Uhr endete die sehr kurzweilige, höchst interessante Tour, an die alle Teilnehmenden sicher gern zurückdenken werden.

    #Berlin #Geschiichte #Kriminalität #Stadtführung #Sightseeing #Krankheit #Fernsehstube #Fernseh-Großbildstelle

  • Stolpersteine für Holocaust-Opfer: Berliner Jüdin kehrt an den Ort ihres Schreckens zurück
    https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/stolpersteine-fuer-holocaust-opfer-eine-berliner-juedin-kehrt-an-de

    21.9.2023 von Anne-Kattrin Palmer - Es ist Mittagszeit, als sich vergangene Woche ein Trüppchen von Menschen vor einem Wohnhaus in Berlin-Mitte trifft. Die Sonne scheint, der ehemalige Architekt Thomas Schriever kniet sich mit seinem Eimer nieder und beginnt, die Pflastersteine aus dem Boden zu holen. Er geht langsam vor, bedächtig. Seine Augen sind gerötet. Später wird er sagen, dass es ihm sehr nahegegangen ist.

    Neben ihm sitzt eine zierliche, gebrechliche Frau mit rotem Haar in einem Rollstuhl. Ginger Lane ist 84 Jahre alt. Die einstige Balletttänzerin hat ihre Augen hinter einer großen orangen Sonnenbrille versteckt, weil das Licht so brennt, aber auch die Erinnerungen. Ihre schmalen Hände zittern, während der Mann im Blaumann einen Spachtel in die Erde haut, die Steine rausholt, Wasser auf das Loch schüttet und weitergräbt. Verwandte von Ginger Lane, wie ihre ebenfalls rothaarige Tochter Beth, eine Filmemacherin, die aber auch mal als Schauspielerin in einem Francis-Ford-Coppola-Streifen mitspielte, richten die Handys auf den ehrenamtlichen Stolperstein-Verleger Schriever, der sich langsam vorarbeitet.

    Bildstrecke

    Neun Rosen für die Eltern und die sieben Kinder der Familie Weber.

    Neun Rosen für die Eltern und die sieben Kinder der Familie Weber.Markus Wächter/Berliner Zeitung

    Beth Lane (v.M.) vor den Stolpersteinen ihrer Familie an der Max-Beer-Straße.

    Beth Lane (v.M.) vor den Stolpersteinen ihrer Familie an der Max-Beer-Straße.Markus Wächter/Berliner Zeitung

    Beth Lane mit ihrer Mutter Ginger Lane, die als Kind in Berlin-Mitte lebte.

    Beth Lane mit ihrer Mutter Ginger Lane, die als Kind in Berlin-Mitte lebte.Markus Wächter/Berliner Zeitung

    Der Architekt Thomas Schriever verlegt die Steine.

    Der Architekt Thomas Schriever verlegt die Steine.Markus Wächter/Berliner Zeitung

    Ginger Lane war drei Jahre alt, als ihre Mutter ermordet wurde.

    Ginger Lane war drei Jahre alt, als ihre Mutter ermordet wurde.Markus Wächter/Berliner Zeitung

    Musik begleitete die Zeremonie.

    Musik begleitete die Zeremonie.Markus Wächter/Berliner Zeitung

    In Gedenken an die Familie Weber.

    In Gedenken an die Familie Weber.Markus Wächter/Berliner Zeitung

    Thomas Schriever arbeitet sich vor, nach 50 Minuten war es vollbracht.

    Thomas Schriever arbeitet sich vor, nach 50 Minuten war es vollbracht.Markus Wächter/Berliner Zeitung

    Mutter und Tochter: Ginger und Beth Lane leben in Amerika.

    Mutter und Tochter: Ginger und Beth Lane leben in Amerika.Markus Wächter/Berliner Zeitung

    Die neun Stolpersteine, bevor sie eingebettet wurden.

    Die neun Stolpersteine, bevor sie eingebettet wurden.Markus Wächter/Berliner Zeitung

    Ginger Lanes Redemanuskript.

    Ginger Lanes Redemanuskript.Markus Wächter/Berliner Zeitung

    Die Weber-Kinder gemeinsam mit weiteren jüdische Überlebenden vor ihrer Abfahrt nach Amerika, Ginger Lane steht vorne.

    Ginger Lane kämpft die nächsten 50 Minuten mit den Tränen, vor allem als Schriever einen Stolperstein nach dem nächsten in der Erde verschwinden lässt. Auf jedem einzelnen stehen die Namen ihrer jüdischen Familie – ihr Vater Alexander Weber, die Mutter Lina (Kosename von Pauline), der Bruder Alfons, die Schwestern Senta, Ruth, Gertrude, Renee, Judith und sie, Bela Weber. Bela heißt heute Ginger, sie spricht nur noch Englisch. „Deutsch habe ich nach meiner Flucht 1946 nicht mehr gesprochen“, erzählt sie später. In den USA habe man nach Hitler als Deutsche keinen guten Stand gehabt.

    Doch jetzt schaut sie andächtig auf den schmalen Gehweg vor dem Wohnhaus mit den 30 Klingelschildern in der Max-Beer-Straße 50, auf dem fortan die neun goldenen Steine an ihre Geschichte erinnern und auch mahnen sollen, dass die Schrecken der Vergangenheit nie wieder auferstehen dürfen. In Mitte liegen mehr als 2000 solcher Steine.

    1943 hieß die Straße noch Dragonerstraße, die Hausnummer war 48. Die gibt es nicht mehr und auch nicht das alte große, heruntergekommene Haus, in dem die Familie lebte, bis die Nazis sie verfolgten und die Mutter von Ginger Lane in Auschwitz ermordeten. Ein Musiker spielt jetzt „Sag mir, wo die Blumen sind“. Ginger Lane laufen Tränen über die Wangen.

    Die 84-Jährige ist 1939 in Berlin geboren, damals lebte die Familie noch in der Grenadierstraße (heute Almstadtstraße) im „Scheunenviertel“, das, bevor Hitler an die Macht kam, bevorzugter Ankunftspunkt für Tausende von Juden war, die aus den östlichen Gebieten Europas vor Gewalt und Pogromen flohen.

    Auch die Familie Weber war 1930 in das Arme-Leute-Quartier gezogen. Alexander Weber kam aus dem katholischen Paderborn. Er war der Spross einer gut situierten Familie, die eine Regenschirm-Manufaktur besaß. Als er geschäftlich nach Ungarn reiste, lernte er Pauline Banda kennen, Tochter eines Kantors der jüdischen Gemeinde in Rákospalota, und verliebte sich. Am 12. September 1926 heiratete er die hübsche Frau mit den braunen Haaren in Rákospalota und nahm sie mit nach Deutschland. Vorher war Weber sogar zum jüdischen Glauben konvertiert.

    Doch die jüdische Ehefrau war nicht willkommen im erzkatholischen Paderborn. „Sie haben ihn enterbt“, sagte eine der Töchter, Ruth, mal in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung. Alexander Weber brach vollständig mit seiner Familie, verließ Paderborn, zog nach Dortmund und dann, Anfang 1930, nach Berlin, zunächst in eine Zwei-Zimmer-Wohnung in der Grenadierstraße. Danach in die Dragonerstraße. Das Paar bekam sieben Kinder. Alfons war der Älteste, die Jüngste war Bela, heute Ginger.

    Ginger Lane war dreieinhalb Jahre alt, als die Gestapo vor der Tür stand. Es hat sich bis heute bei ihr eingebrannt, obwohl sie noch so jung war. Sie weiß genau, dass die Männer in Ledermänteln gegen die Tür hämmerten und ihre Mutter öffnete. Ginger selbst versteckte sich. Die Tür schlug wieder zu, ihre Mama war weg. Sie schaute aus dem Fenster, sah, wie die Männer ihre hilflose Mutter in ein schwarzes Auto schubsten. Sie ahnte damals nicht, dass sie Mutter nicht mehr wiedersehen würde. 1943 wurde Pauline Weber in Auschwitz ermordet. Jetzt, genau 80 Jahre danach, sitzt ihre Tochter vor dem Haus, in dem alles passierte. Sie konnte lange Jahre nicht hierhin zurückkommen.
    1943 in Berlin: Die Mutter, der Vater und der Bruder werden verhaftet

    Damals überschlugen sich die Ereignisse: Die Mutter war weg, noch in derselben Nacht wurde auch Alexander Weber verhaftet, am nächsten Morgen brachte man die sieben Kinder in das Krankenhaus der jüdischen Gemeinde in der Exerzierstraße. „Wir waren ganz allein, als sie uns holten“, erzählt Ginger an jenem Mittag in Berlin. Alfons sei noch mal abgehauen, er wollte irgendwelche Papiere in Sicherheit bringen, aber als er zurückkam, hätten sie ihn eingesperrt. Doch er sowie der Vater kamen auf wundersame Weise wieder frei. Alexander Weber rettete wohl, dass er seinen Austritt aus der jüdischen Gemeinde erklärte. Scheiden lassen aber wollte er sich nicht. Warum ihr Bruder Alfons gehen durfte? Ginger Lane weiß es bis heute nicht.

    Es war aber nur eine Frage der Zeit, bis man die Kinder abholen und in den Tod schicken würde. Das wusste Alexander Weber in jenen Jahren, da seine Kinder nach den Nürnberger Rassegesetzen als „Halbjuden“ galten. Hinzu kamen die Bombenangriffe, die Kinder saßen nur noch im Keller. Sie waren verschüttet. Er muss verzweifelt gewesen sein, erzählt eine Verwandte, die aus Paderborn für die Zeremonie angereist ist, an jenem Mittag vor dem Haus in der Max-Beer-Straße.

    It is an honor to share that 9 Stolpersteine bricks were laid outside of 48 Dragonerstrasse to honor the Weber family. Stolpersteine is the brilliant work of Gunter Demnig and stretches across Europe to honor and remember the victims and the persecuted of the Holocaust. pic.twitter.com/66AArWGJDF
    — beth lane (@bethlanefilm) September 21, 2023

    Doch dann sei etwas Unfassbares geschehen: Der Obst- und Gemüsehändler Arthur Schmidt aus Worin, einem Dorf etwa 60 Kilometer östlich von Berlin, bot dem Vater an, die Kinder bei sich zu verstecken. Schmidt hatte in dem Haus in der Dragonerstraße 48, in dem die Webers wohnten, einen Raum gemietet. Dort lagerte er seine Obstkisten und die Ware, die er in den Markthallen nicht verkauft hatte. Die beiden Männer kannten und mochten sich. „Oh ja!“, soll Alexander Weber damals erleichtert gerufen haben.

    So kam es, dass Schmidt die Geschwister eines Nachts abholte, und fortan wohnten sie auf seinem Grundstück „Grüner Wald“ an der B1. Fast zwei Jahre lang lebten die Kinder bei der Familie in der Waschküche, wurden von ihr versorgt. In Worin haben einige die Identität der Kinder gekannt, die sich auf dem umzäunten Hof frei bewegten oder manchmal in den Ort kamen und um etwas zu essen baten, erinnert sich Marlis Schüler, deren Mann, der damalige Dorfchronist, die längst vergessene Geschichte der Kinder 1985 aus den Archiven kramte.
    In Worin erinnert eine Messingtafel an die sieben Kinder

    Dabei kam vieles ans Tageslicht, auch dass der Bürgermeister Rudi Fehrmann eingeweiht gewesen war und die Kinder trotzdem nicht verriet, obwohl er Mitglied der NSDAP war. Noch im Mai 1945, unmittelbar nach dem Einmarsch der Roten Armee, wurde Fehrmann allerdings verhaftet und in das sowjetische Speziallager Ketschendorf bei Fürstenwalde gebracht. Dort starb er 1947. In der DDR war das Thema ein Tabu – die Geschichte der sowjetischen Speziallager wurde erst nach der Wende 1990 aufgearbeitet. Marlis Schüler sagt, dass bis 1989 auch kaum jemand über die Kriegszeiten mehr geredet hätte: „Das Ganze kam erst ins Rollen, nachdem mein Mann weiter in den Archiven geforscht hatte.“

    Wir waren so einsam und hatten immer Angst.

    Ginger Lane über die Zeit in Worin

    Die Rentnerin Marlis Schüler aus Worin ist auch an jenem Mittag dabei, als die Stolpersteine versenkt werden. Ihr Sohn hat sie nach Berlin gefahren, sie lebt inzwischen in Schleswig-Holstein, ihr Mann Herbert ist gestorben. „Er hätte das heute gerne miterlebt, aber auch Alfons, der älteste Bruder der Geschwister. Er ist 2016 gestorben“, erzählt sie. Sie und ihr Mann sind von Alfons Weber angeschrieben worden, es entwickelte sich eine Brieffreundschaft, ein gegenseitiger Austausch. Man traf sich, um sich zu erinnern.

    Nach Alfons folgten die Geschwister. Ginger Lane, die partout nicht nach Mitte wollte, besuchte dafür die Familie Schüler in Worin und dachte dort daran, wie sie im Krieg auf dem Land Kartoffeln geerntet hatten und vor allem daran, „dass wir so einsam waren und immer Angst hatten“.

    Weltkrieg und Nationalsozialismus: Diese Museen erklären, was in Berlin geschah

    Zwei Stolpersteine und ein schweres Versäumnis

    Auch Tochter Beth, die in Los Angeles lebt, kam immer wieder in das brandenburgische Dorf und drehte dort unter anderem den Dokumentarfilm „UnBroken“, der an die Geschichte ihrer Familie erinnern soll. Aber auch an die Helfer, die die Kinder retteten. Die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem ehrte das Ehepaar Paula und Arthur Schmidt aus Brandenburg 2018 als „Gerechte unter den Nationen“ posthum. 2019 wurde in Worin an dem Grundstück eine Messingtafel angebracht.

    Es sind zwei Stunden vergangen, die Stolpersteine liegen nun an ihrem Platz. Seit 1992 gibt es diese Denkmale, entwickelt von dem Künstler Gunter Denning. Ihm ging es um individuelles Gedenken und die Mahnung: Die Nationalsozialisten wollten die verfolgten Menschen zu Nummern machen und ihre Identität auslöschen. Mit den Stolpersteinen wollte er diesen Prozess rückgängig machen und ihre Namen wieder in die Straßen und Städte zurückholen.

    It’s official! My documentary film UNBROKEN was selected for the Heartland International Film Festival! Tickets to watch in person are now available at https://t.co/shpYBnqLOl #HIFF32 @HeartlandFilm pic.twitter.com/BO0RVxwsu0
    — beth lane (@bethlanefilm) September 15, 2023

    Inzwischen finden sich die Steine in über 1800 Kommunen – insgesamt mehr als 100.000 Gedenksteine sind es in Deutschland und 25 weiteren europäischen Ländern, unter anderem in Österreich, Belgien, Frankreich, Polen, den Niederlanden und der Ukraine. In Berlin (Stand: August 2023) wurden bereits 10.287 Stolpersteine verlegt. Diese verteilen sich auf 76 von 97 Berliner Ortsteilen.

    Ginger Lane schaut auf ein beschriebenes Blatt Papier, auf dem sie sich notiert hat, was sie sagen möchte. Sie redet über ihren Vater, der Elektriker war und sich bestimmt mit ihrem Rollstuhl ausgekannt hätte, der oft den Geist aufgibt. Sie lächelt, als sie das sagt. Ihren Vater sah sie wieder, er folgte den Kindern nach Amerika. Dort starb er in den 1980er-Jahren.

    Dann spricht sie von ihrer Mutter, die in Berlin im Untergrund gegen die Nazis gearbeitet und immer anderen geholfen habe, auch wenn sie sich der Gefahr bewusst gewesen sei. Ginger Lane muss schlucken, als sie über ihren Bruder Alfons redet, an den sie täglich denke und der ihr fehle. „Er hat uns beschützt, als wir nach Amerika fuhren und auch später.“

    Alfons starb 2016, ebenso wie drei ihrer Schwestern. Heute leben nur noch Gertrude, Judith und Ginger.

    Auch ihre Geschichte wird noch einmal vorgelesen, diesmal von ihrer Tochter Beth, die gerade sechs Jahre alt war, als sie in den USA ankam und von der Künstlerin Rosalynde und dem Neurochirurgen Joshua Speigel adoptiert wurde. Beth Lane liest vor: „Ginger wuchs in einem künstlerischen Haushalt auf; sie wurde Ballerina, heiratete schließlich und bekam drei Kinder. Sie ist stolze Großmutter von sieben Enkelkindern und hat zahlreiche Auszeichnungen für ihren Beitrag zur Behindertenhilfe sowie für Tanz und Choreografie erhalten. Im Frühjahr 2022 wurde Gingers Bild zu Ehren des Women’s History Month an Bushaltestellen und Plakatwänden in Chicago angebracht!“

    Die Mutter lächelt ihre Tochter liebevoll an, sie drückt Beths Hand. Ginger Lane sagt: „Es gibt so viel Böses auf der Welt, das immer wieder von so viel Gutem überwältigt wird. Wir müssen uns immer daran erinnern, dass das Gute immer die Oberhand über das Böse behält.“ Sie schaut auf das Haus, in dem sie als Kind gelebt hat. Obwohl es nicht das alte ist, hat sie bisher den Blick gemieden. Jetzt wirkt es für einen Moment, als habe sie Frieden mit diesem Ort geschlossen.

    #Brandenburg #Worin #Berlin #Mitte #Scheunenviertel #Almstadtstraße #Grenadierstraße #Max-Beer-Straße #Dragonerstraße
    #Holocaust #Shoa #Geschichte

  • « Stella » von Takis Würger : Ein Ärgernis - Kultur - Süddeutsche.de
    https://www.sueddeutsche.de/kultur/takis-wuerger-stella-goldschlag-rezension-buchkritik-1.4282968

    Le Süddeutsche Zeitung n’aime pas ce roman qui raconte une histoire d’amour fictive avec la femme qui à traqué des juifs clandestins.

    Mit seinem zweiten Buch ist Würger vom kleinen Schweizer Verlag Kein & Aber zum Publikumsverlag Hanser gegangen, der es heftig bewirbt. Nazisex und Judenfetisch (und umgekehrt) gibt es darin nicht, der Roman bleibt geradezu keusch. Am Willen zur Ausbeutung der Vergangenheit fehlt es nicht, aber Würger geht wie ein Vampir vor, der die Halsschlagader nicht trifft. Bestsellerkompatibel scheint allein der plätschernde Tonfall zu sein, der sich wie das Voice-Over eines Nazidramas mit Veronica Ferres liest: „’Verlass mich nicht’, sagte sie in mein Ohr. Ich schüttelte den Kopf und küsste ihre Tränen.“

    Stella Goldschlag – Wikipedia
    https://de.wikipedia.org/wiki/Stella_Goldschlag

    Stella Ingrid Goldschlag (verh. Stella Kübler-Isaacksohn) (* 10. Juli 1922 in Berlin; † 1994 in Freiburg im Breisgau) war eine jüdische Gestapo-Kollaborateurin, die während des Zweiten Weltkriegs als sogenannte „Greiferin“ untergetauchte Juden (sie wurden „U-Boote“ genannt) in Berlin aufspürte und denunzierte.

    Stella Goldschlag - Das blonde Gift - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de
    https://www.aviva-berlin.de/aviva/Druck.php?id=141679

    Ich führe TouristInnen durch das Scheunenviertel. Vor dem Krieg war es eine heruntergekommene Gegend, wo sich viele mittellose orthodoxe Jüdinnen und Juden aus Osteuropa niedergelassen hatten, nachdem sie vor den Pogromen zu Beginn des 20. Jahrhunderts geflüchtet waren. Heute ist es dort von TouristInnen überlaufen, voller schicker Boutiquen und trendigen Cafés, kaum etwas ist von dem jüdischen Leben vor dem Krieg übrig geblieben, außer einigen Gedenksteinen und den Geschichten der Vergangenheit, die ich, als eine Fremdenführerin, versuche lebendig zu erhalten.
    ...
    Stella endete als einsame und depressive alte Frau. Sie übernahm fast keine Verantwortung für ihre Verbrechen und sah sich selbst weiterhin als eher als ein Opfer, denn als eine Täterin. Im Jahr 1994 begang sie Selbstmord, indem sie aus dem Fenster ihrer Wohnung in Freiburg sprang.

    Wenn ich damit fertig bin, Stellas Geschichte zu erzählen, kommen verschiedenste Reaktionen. „Sie hätte die Todesstrafe kriegen sollen“ "Man kann es ihr am Gesicht ansehen, dass sie absolut böse ist" Andere haben Verständnis für sie „Sie war bloß ein zwanzigjähriges Mädchen, ich weiß nicht, was ich an ihrer Stelle getan hätte“ "Wenn sie der Gestapo nicht so nützlich gewesen wäre und so viele Juden verraten hätte, hätten die sie wohl deportiert, oder?" Einmal hat ein Psychologe während meiner Tour erklärt, dass Stella aus einem Schutzmechanismus heraus begonnen hatte, sich mit ihren PeinigerInnen zu identifizieren. Stellas Geschichte löst bei meiner Tour oft Debatten aus. Hätte sich jede Person unter den Umständen so verhalten, oder war sie das reine Böse, oder eine Psychopathin?

    Wenn ich mich von der Gruppe verabschiede und ihnen einen angenehmen Aufenthalt in Berlin wünsche, weiß ich, dass Stellas Geschichte die ist, an die sie sich noch lange erinnern werden.

    Autorinnen:

    Shlomit Lasky ist Journalistin und Drehbuchautorin. Shlomit schreibt seit 2005 regelmäßig für israelische Medien und wurde in Israel auch zur Theaterschauspielerin ausgebildet. Während sie in London lebte (2001-2005), erwarb sie einen Master in Screenwriting an der University of the Arts London. Seit 2010 lebt sie in Berlin. Sie hat eine Förderung der FFA erhalten, um ein Drehbuch schreiben zu können und arbeitet außerdem als Fremdenführerin für "Gablinger Tours.

    Maayan Meir ist Trickfilmproduzentin und Projektmanagerin. Maayan hat mehrere große Animationsfilme produziert. Sie ist eines der Gründungsmitglieder der „Keset Hebrew Poetry Society“. Ihre Gedichte wurden in israelischen Poesiezeitschriften veröffentlicht. Eines ihrer Drehbücher erhielt 2003 eine Ehrung des „The Micky Albin Funds“. Außerdem organisierte sie die Film- und Drehbuchwettbewerbe des Tel Aviv Students Film Festivals.

    #Allemagne #Berlin #Scheunenviertel #nazis #juifs #histoire #littérature #tourisme