• Eine linke Karriere
    https://taz.de/!504356

    10.12.2005 von CHRISTOPH VILLINGER - taz Serie „1980, 1990 – besetzte Zeiten“ (Teil 5): In den 80er-Jahren startete Rainer Klee .als Taxikollektivist in einem besetzten Haus. Daraus entwickelte sich eher beiläufig die Titanic-Reisebüro-Kette und der heute größte Flugtickethändler Europas.

    „Ich möchte nichts missen!“ Stolz schwingt in der Stimme von Rainer Klee, wenn er von den Ursprüngen seiner Firma erzählt. Heute ist der 47-jährige gelernte Speditionskaufmann Vorstandsvorsitzender der Aerticket AG, Europas größtem Flugticket-Großhändler. Insgesamt 300 Menschen arbeiten dort, allein 180 in der Zentrale in der Kreuzberg Zossener Straße. Etwa eine Million Tickets liefern sie pro Jahr an rund 6.000 Reisebüros.

    Angefangen hatte alles Mitte der 80er-Jahre. Rainer Klee war gerade aus einem besetzten Haus in Charlottenburg ins Kerngehäuse an der Kreuzberger Cuvrystraße gezogen. „Zusammen wohnen und arbeiten“ war in dem schon legalisierten Hausprojekt angesagt, oben gab es große Wohngemeinschaften, unten die Autowerkstatt für fünf Taxikollektive. Klee arbeitete bei den „Schwarz-Roten Reifen“. Die Farben standen für den in einer anarchosyndikalistischen Tradition stehenden Flügel der Hausbesetzer, aber auch für die damaligen Befreiungsbewegungen in Nicaragua und El Salvador.

    „Selber machen“ meinte damals nicht nur das Instandsetzen von Häusern oder das Reparieren der Taxis. Auch mit Kaffeeimporten aus Nicaragua wurden die Strukturen des Weltmarkts umschifft. Einige Taxigenossen gründeten die Berliner Kaffeegenossenschaft, die Marke „Sandino Dröhung“ war schnell etabliert und Rainer Klee als Geschäftsführer der Importfirma mehrmals in Nicaragua.

    Dorthin zog es hunderte Menschen aus der Lateinamerika-Solidaritätsszene. Allein durch ihre Anwesenheit vor Ort bildeten sie bei der Kaffeeernte einen menschlichen Schutz vor den von den USA finanzierten Konterrevolutionären. Auch die Flugtickets für die europäischen Freunde der Sandinisten wurden selbst organisiert. Das Lateinamerika-Zentrum in der Crellestraße vermittelte in diesen Jahren über 1.000 Flugscheine.

    Neben der politischen Arbeit stellten sich persönliche Fragen. „Will man seinen Lebensunterhalt perspektivisch weiter mit Taxifahren verdienen?“, überlegte sich nicht nur Rainer Klee. Manche stießen an ihre gesundheitlichen Grenzen. „Wir orientierten uns in Richtung Reisebüro“, erinnert sich Klee. Das war damals eine Marktlücke im Wrangelkiez. Zu sechst gründete man 1988 das „Titanic-Reisebüro“ in der Oppelner Straße. Arbeit und Politik blieben verknüpft. Das Büro diente etwa als Info-Laden für die Kampagne gegen die Berliner Tagung des Internationalen Währungsfonds im Herbst des gleichen Jahres.

    Allein von dem Laden konnte in den ersten beiden Jahren jedoch niemand leben. „Wir arbeiteten alle noch nebenher, ich zum Beispiel machte Nachtdienste im Krankenhaus“, erzählt Gründungsmitglied Ilona Paschke. „Dafür war das Reisegeschäft noch sehr ruhig. Es gab die drei alliierten Fluggesellschaften ab Tegel und die Interflug ab Schönefeld“, sagt die heute 41-Jährige Geschäftsführerin. In der Aufbauzeit arbeiteten alle gut „60 bis 70 Stunden die Woche“. Für Klee ging dies nicht mehr mit seiner großen WG zusammen. Er zog aus.

    Der Mauerfall brachte dem Titanic-Reisebüro den ersten Großkunden, den Deutschen Rundfunk der DDR. Und fast folgerichtig aus der umfangreichen Solidaritätsarbeit gewann man eine Ausschreibung des Deutschen Entwicklungsdienst (DED), der laut Paschke „größten Organisation, die Menschen in die Dritte Welt schickt“. Mit der Übernahme weiterer Reisebüros endete 1991 die „Aufbau- und Kollektivphase“. Dann bekam die erste Frau ein Kind. Andere wollten „etwas vorantreiben“ und damit „auch ein höheres Maß an Verantwortung tragen“, erinnert sich Paschek. Das brachte auch Enttäuschungen mit sich. Schon zuvor war ein Kollektiv mit 10 bis 15 Leuten schwierig genug, nun war es bei vielen nicht mehr angesagt. Die Beziehung, die Kinder, monatelanger Urlaub und anderes hatte Vorrang. „Es gelang uns nicht mehr, jemanden vom Kollektiveintritt zu überzeugen“, sagt Klee. Titanic wurde ein normales Unternehmen im gemeinschaftlichen Besitz der Betreiber, zwar noch bis 1996 mit Einheitslohn, aber mit Angestellten.

    Konflikte und Streit gab es eher, als man merkte, dass ein Reisebüro „eine noch blödere Dienstleistung als Taxifahren sein kann“. Kunden meckern rum. „Ökotourismus in die Toskana verkaufte sich überhaupt nicht, zu viele wollten einfach nur billig nach Mallorca, egal wie. Wieder andere schimpften wegen Flugreisen in die Dominikanische Republik. „Wegen des dortigen Sextourismus“, sinniert Paschke über die damaligen Auseinandersetzungen.

    Doch man expandierte weiter, ein Reisebüro am Ku’damm brachte sich ein, die Menschen aus den Reisebüros von Artu am Heinrichplatz und in der Zossener Straße wurden Mitgesellschafter. Leute aus einem anderen Taxikollektiv stiegen ins Geschäft mit Bahntickets ein. Daraus entstand das vor allem auf Eisenbahnfahrten spezialisierte Reisebüro „Kopfbahnhof“ in der Yorckstraße. Innerhalb weniger Jahre entwickelte sich aus dem kleinen Reisebüro Titanic eine Kette mit heute 45 Angestellten und sieben Eigentümern. Als der DED nach Bonn umsiedelte, zog eine der zehn Filialen mit. „Gemessen daran, dass alle anderen aus dem studentischen oder alternativen Milieu kommenden Reisebüros inzwischen von großen Konzernen aufgekauft oder pleite sind, geht’s uns ganz gut“, kommentiert Klee.

    Aber die Devise, „das können wir doch selber machen“, galt weiterhin. Eher beiläufig bot sich an, Flugtickets auch für andere Reisebüros auszustellen, bald waren allein damit drei Leute beschäftigt. Etwa 50 alternative Reisebüros und Mitfahrzentralen gründeten einen Verein, aus dem sich bald „eine Art Einkaufsgenossenschaft“ entwickelte. Spätestens „ab diesem Moment wurden wir von den Fluggesellschaften ernst genommen“, schaut Klee zurück. Heute hat der Verein 600 Mitglieder. Das Ausstellen der Tickets gliederte man in eine Tochtergesellschaft aus, die heutige Aerticket AG, deren Vorstandsvorsitzender Klee nun ist.

    Zwar gebe es kollektive Entscheidungen im Vorstand, sagt Klee. „Aber wir sind kein Kollektiv mehr.“ Mitarbeiter würden inzwischen bei jedem gut geführten Unternehmen in die Entscheidungen miteinbezogen. „Unser Problem ist, in einer Firma zu arbeiten, hinter der man steht. Um die am Leben zu halten, kann man nicht immer das Beste für alle machen“, meint auch Petra Wybieralski. Mitte der 80er-Jahre war auch sie beim „schwarz-roten“ Taxikollektiv und Buchhalterin im Kerngehäuse. „Sich in alles Mögliche reinfummeln zu können“, das sei die größte Stärke des Betriebs, meint die gelernte Germanistin. Ohne je Betriebswirtschaft studiert zu haben, leitet die 51-Jährige die Personalverwaltung und ist Mitarbeitervertreterin. Als solche verteilt sie gerade die hereinkommenden Weihnachtsgeschenke der Fluggesellschaften.

    Politisch greife man nur noch per Spenden ein, erzählt Klee. „So sind wir zum Beispiel der größte Einzelspender von Christian Ströbele“, dem Kreuzberger und Friedrichshainer Vertreter im Bundestag. Drei Stunden lang diskutierte vor kurzem die Betriebsversammlung mit ihm.

    Als verpasste Jahre empfindet Rainer Klee die Zeiten im besetzten Kerngehäuse nicht. Vielmehr „bin ich ein wenig darüber frustriert, wie sie jetzt alle unterm Tannenbaum sitzen“. Früher sei er gerne an Heiligabend Taxi gefahren. Da widerspricht Paschke ihrem langjährigen Kompagnon vehement. „Unsere Weihnachtsfeiern im Betrieb sind für die Mitarbeiter Ausdruck des familiären Betriebsklimas und ganz wichtig“. Rainer Klee erlebt den Unterschied in der Firmenkultur an anderer Stelle: „Bei den großen Treffen mit den Vertretern der Fluggesellschaften werde ich immer ein wenig belächelt“, sagt Klee. „Aber ich bin weiter der Meinung, zusammen wohnen und kollektive Strukturen aufzubauen ist richtig. Mir fehlen dazu eher die Leute.“

    #Berlin #Taxikollektiv

  • Kein Helden im Klassenkampf -Vorgestellt von Michael Schmitt
    https://www.deutschlandfunk.de/kein-helden-im-klassenkampf-100.html

    15.09.2013 - Berlin, Nähe Savigny-Platz, kurz nach dem Mauerfall. Eine Gegend, die ein paar Jahre später als alter Westen bezeichnet werden wird, jetzt aber noch der selbstverständliche Mittelpunkt eines Biotops von in der Wolle gefärbten Linken, vage-linksgerichteten Bohemiens und intellektuell beschlagenen Lebenskünstlern ist. Auf der einen Seite der Straße liegt die Kneipe, in der ein Aushilfslektor sein Bier trinkt, auf der anderen liegt das etwas edlere Etablissement, in dem der Leiter eines kleinen Verlages die Welt erklärt.

    Bei Betriebsfeiern wird auf das alte Jahr angestoßen, und der Chef erläutert die absehbaren nationalen Konflikte in den auseinanderbrechenden Ländern des Ostens. Das Recht der DDR auf Fortbestehen wird verfochten – vermutlich auch, weil das den Status quo am Savigny-Platz sichert. Die kritischen Geister diskutieren über das Verhältnis von medial vermittelten Bildern zur Wirklichkeit hinter den Nachrichten. Ein Lebenslauf kann nun kurzgefasst und mit schönster Selbstverständlichkeit als Weg vom „radikalen Demokraten über den proletarischen Internationalisten zum libertären Europäer“ beschrieben werden – als nicht minder folgerichtig wie der Verlauf der Geschichte selbst.

    Und als Leser ahnt man aus der Distanz eines Vierteljahrhunderts: An diesem Ort und in solchen Gedanken kehrt der Hegel’sche Weltgeist zurück, hier vollzieht sich gerade die Revision von Karl Marx‘ einstigem Versuch, die Hegelsche Philosophie vom Kopf auf die Füße zu stellen. Es droht ein Umbruch mitten in Deutschland, gerade auch für eine Denkungsart, deren heroische Tage im Wendejahr schon zwei Jahrzehnte zurückliegen.

    Altersprozess einer Generation

    „Aus nächster Nähe“ heißt Jürgen Theobaldys aktueller Roman, der sich einige eingefleischte Mitglieder dieser Gesellschaft genauer anschaut und eine kleine Rückschau auf den Alterungsprozess einer Generation inszeniert, der er selbst, weil etwas früher geboren, zwar nahe steht, aber nicht wirklich angehört. Deren ideologische Koordinaten in seinen literarischen Werken, in Gedichten, Prosa, Erzählungen und Romanen auch niemals ungebrochenen Eingang gefunden haben. „Aus nächster Nähe“ ist dabei als Erzählhaltung wörtlich zu nehmen – es geht um eine teilnehmende Beobachtung, um die kleinen sprechenden Details, aus denen eine ganze Haltung zum Leben herausschauen kann, wenn sie in die richtigen Sätze gekleidet werden. Thesenhafte Zuspitzungen oder gar Urteile braucht Theobaldy dafür nicht.

    Im Nachwort zu einer programmatischen Lyrikanthologie, „Und ich bewege mich doch … Gedichte vor und nach 1968“ hat er 1977 erklärt, es gehe in den Gedichten, die er als Herausgeber von Freunden und Altersgenossen zusammengetragen hat, nicht um den Wunsch, „das eigene Innenleben als eine exotische Landschaft zu präsentieren“. Dieser Satz hat auch für den neuen Roman seine Gültigkeit.

    Als Lyriker wie auch als Erzähler hat Jürgen Theobaldy seit seinen literarischen Anfängen im Kreis um Walter Höllerer in den frühen siebziger Jahren das Alltägliche, das Unscheinbare aufgesucht, hat dafür geworben, zur Beschreibung eine einfache Sprache zu nutzen, das Pathos und den vornehmen hohen Ton aufzugeben. Er war ein Weggefährte und Freund von Nicolas Born, der ein vergleichbares literarisches Ziel verfolgte und auch eine vergleichbare Vita mit windungsreichem Bildungsweg hinter sich hatte. „Neue Subjektivität“ oder „neue Innerlichkeit“ waren seinerzeit Begriffe für diese Erzählhaltung – das Politische in der Literatur wurde nicht abgelehnt, Dichtung und Prosa aber sollten sich vom politisch-belehrenden Engagement der Mitglieder der Gruppe 47 genauso abgrenzen wie von der abstrakt-revolutionären Gestik der 68er. Die Welt sollte nicht mehr erklärt werden, Erlebnisse rangierten höher als Ideen, die Umgangssprache sollte die Chiffren ersetzen:

    Hinter den geschlossenen Augen wusste Richard das ungeheizte Zimmer, das seinen ersten Buden ähnelte, die Kleider verstreut auf dem Boden, Wäsche genau genommen, eine leere Tasse, die auf dem Schreibtisch angetrocknet war, zwischen Broschüren, Teilen von Zeitungen und beschriebenen Blättern Papier. Die beiden 2-Wege-Boxen, von einem bekannten, der auf größere umgestiegen war, fast geschenkt, waren auf das Bett ausgerichtet, die Regale standen eher behelfsmäßig da, unbehandelt und verstaubt, sie knarzten wie ein müdes Baugerüst, wenn Richard ihnen zu nahe kam. Eine Sitzecke gab es nicht, kein Polster oder so etwas, damit Richard oder eine Besucherin den Gemeinschaftsraum meiden konnten, kein Gar nichts, worauf er und sie zueinander rücken konnten, im rechten Moment.

    Richard blickt auf eine fast vierzigjährige Jugend zurück

    Dieser Richard ist die zentrale Gestalt in Theobaldys neuem Roman, ein Mann, der auf eine fast vierzigjährige Jugend zurückblicken kann, auch auf eine Liebschaft, die ihn im Innersten niemals losgelassen hat; weiterhin auf ein paar mehr oder weniger glücklose Beziehungen sowie auf eine perspektivlose Berufstätigkeit in einem kleinen Verlag, der unter anderem soziologisch-politische Bücher mit deutlichem Gegenwartsbezug veröffentlicht. Richard ist erschütterbar aber zäh in seiner Bindung an die erworbenen Lebensweisen und haust fast noch wie ein Student; in einem gewissen Sinne ist er seiner Sozialisation treu, aber er wirkt auch schon ein bisschen abgehängt und kultiviert eine Intensität der Selbstbespiegelung, die derjenigen in nichts nachsteht, die heute oft den Dreißigjährigen oder der ebenfalls nicht mehr ganz jungen Prenzlauer-Berg-Kultur nachgesagt wird. Unsympathisch macht ihn das nicht.

    Richard ist ein Antiheld, die liebevolle Ironisierung einer Spielart jener Geburtsjahrgänge, die sich und ihre glamouröse Rolle in der bundesrepublikanischen Geschichte bislang meist selbst und in eigener Sache beschreiben durften – mal als Literatur, mal als Autobiographie oder Biographie. Vor wenigen Monaten hat etwa Ulrike Edschmid mit viel Resonanz an die Anfänge des Terrorismus der RAF erinnert. Auch Bernd Cailloux, der erste erfolgreiche deutsche Hippie-Unternehmer, hat in bislang zwei Büchern, stets mit einiger Selbstgefälligkeit, seine Generation porträtiert. Und die Handlungsmächtigeren unter den Genossen haben spät aber nachhaltig den Weg von der Rebellion zum politischen Tagesgeschäft und beispielsweise unter Rot/Grün auch zum Umbau der Sozialsysteme und zum militärischen Engagement des wieder geeinten Deutschlands gefunden – und sich dafür feiern lassen.

    Jürgen Theobaldys Richard ist von ganz anderem Zuschnitt – er ist kein Held im Klassenkampf und allenfalls ein mittlerer Held der Liebe, er ist die unscheinbare Verkörperung einer moderaten Erneuerung der Lebensformen bei gleichzeitiger Verwirrung der Rollenmuster. Ein Mensch, durch den Geschichte hindurchfließt, wie es im Roman einmal heißt; die Inkarnation einer Erfahrung, die eigentlich jeder Mensch macht – ihn aber ganz anders trifft, weil die Jahrgänge, denen er angehört, die Geschichte nicht erleiden, sondern gestalten wollten. Und er erkennt das auch und trägt seine Zweifel an sich selbst recht offen vor sich her. Das ist immerhin eine Errungenschaft. Und es ist auch nicht untypisch, denn 1988 haben die 68er sich anlässlich ihres zwanzigjährigen Dienstjubiläums meist noch kollektiv als Generation im Wartestand und mit Durchsetzungsschwächen wahrgenommen:

    Richard sah seine Generation mit vielerlei Skrupeln vor der Führerschaft zögern, und das mochte etwas Lauteres haben, war letztlich aber kindisch, ein Verzagen statt ein Verweigern, war also ein Versagen, ein Verlust des Augenmaßes für das Kreative an dem, was sie (…) und Tausende um sie herum einmal begrenzte Regelverletzungen genannt hatten.

    Klima in der WG wird kritisch

    Richard ist vor allem, so scheint es, ein etwas antriebsloses Menschenkind, das seinen Lebensumkreis in einer Männer-WG mit dem ungefähr gleichaltrigen Freund Gunter kultiviert, weil ihm sonst wenig einfällt. Er passt zu Gunter, solange dieser noch einem Taxikollektiv angehört, das auf den ehemaligen Idealen aufbaut. Kritisch wird das Klima in der WG, als Gunter davon zu träumen beginnt, statt der Rundfahrten mit Touristen lieber eine kleinen Restaurantbetrieb aufzumachen, sich weiter zu entwickeln, womöglich hin zu mehr Geld und mehr Stil:

    Seit dem Besuch seines Vaters spürte Gunter Nudelmaschinen nach, ebenso Teigwaren in vielerlei Formen und Formaten. Ein ausgesuchter Imbissladen schwebte ihm vor, ein halb privater Tortelloni-Club, in dem er selbst kochen und nur Hausgemachtes anbieten würde, während an der nächsten Ecke die Schlange vor dem Discountladen langsam vorrückte und in den Eingängen der Häuser daneben gewiefte Handelspioniere ihre Kartons umpackten, damit sie, von ihren Lasten kaum behindert, zurück zu den Bussen unter der Hochbahn des zentralen Bahnhofs zwischen Minsk und Mailand fanden. Obwohl die Grenze löchrig bis zur Oder-Neiße geworden war, schien sich das östliche Ausland dahinter nur zu vergrößern und mehr und mehr irgend erleichterte Menschen freizugeben. Ihnen allen, die von dorther bei ihm vorbeikämen, würde Gunter mit seiner überschaubaren, so kleinen wie noblen Speisekarte die Stirn bieten: Sie würden lernen müssen, auf den Geschmack zu kommen, und dann wäre Gunter der Letzte, der nicht auch sie willkommen hieße.

    Hier – wie an vielen anderen Stellen des Romans auch – greifen das Private und das Politische in ganz neuer Weise ineinander. Die Erosion des real existierenden Sozialismus beflügelt den kapitalistischen Geist ehemaliger Rebellen. Gunter kann bei seinen Plänen sogar mit der Unterstützung seines Vaters rechnen, der in Bonn als Anwalt ein sehr auskömmliches Leben führt und seinem Sohn die früheren, meist nur verhalten geführten Debatten um die Schuld der Väter am nationalsozialistischen Terror nicht weiter nachzutragen scheint.

    Auch Richard hat nie allzu energisch mit seinem Erzeuger über dieses Thema gestritten – nur: Sein Vater hätte kein Geld, wenn Richard vergleichbare Pläne wie Gunter machen würde. Dem Umbruch, der sich im Kleinen in Gunters Idee von einer veredelten Imbissbude ausdrückt, begegnet Richard weniger handgreiflich, dafür aber soziologisch geschliffen stattdessen in den Manuskripten, die er im Verlag abholt, um sie zuhause zu bearbeiten:

    Die Arbeit versprach eine Art pulverisierten Sinn, Korrekturen sollte Richard sofort eintragen, sofort löslich und innerhalb eines Tags zum Abschluss bestimmt, sonst Geschmackseinbuße. In den Fahnen, die er im Verlag abgeholt hatte, ging es um den Wandel des Sozialcharakters, ein Prozess, der Osteuropa erst bevorstehe, den die Menschen dort schneller durchlaufen müssten, als alle im Westen es getan hatten, solange die Wirtschaft und mit ihr alle gewachsen waren oder umgekehrt. Heute übernahmen die Einzelnen nur noch schwach umrissene soziale Rollen und damit verbundene Werte, sie fühlten sich sich weniger krass und selten endgültig an einen bestimmten Platz in der Gesellschaft gestellt.
    (…)
    Scheitern und Erfolg wurden mehr und mehr aus aus den kollektiven Bindungen gelöst, das ganze machte beide Größen zum rein privaten Risiko, was dem Ganzen vorderhand nur zu bekommen schien, abzulesen am DAX, am Dow Jones oder am Konjunkturbarometer.
    (…)
    Authentizität, das war ein Rückstand aus einem vergangenen Jahrzehnt.

    Rückschau auf die 80er und frühen 90er Jahre

    Eine Rückschau auf die In diesen wenigen Zeilen verpackt Jürgen Theobaldy einen ganzen Abriss der Sozialgeschichte der Bundesrepublik. In der Rückschau auf die 80er und frühen 90er Jahre weiß der Leser heute, dass es nicht mehr weit ist bis zu Gerhard Schulzes Begriff von der „Erlebnisgesellschaft“, mit dem seit 1992 alle zeitgeist-soziologischen Debatten ein neues Koordinatensystem erhalten, weil der Konsum über die Kritik als dominierende Haltung zu obsiegen scheint. Und noch ein Jahr später wird auch Botho Strauß in seinem „anschwellenden Bocksgesang“ der alten Linken gewaltig die Leviten lesen. Mit diesem Vorwissen des Lesers spielt der Roman von Jürgen Theobaldy und bezieht daraus einen erheblichen Teil seines Reizes. Was Richard 1989/90 nur ahnen kann, ist mittlerweile selbst schon wieder zu „Geschichte“ geronnen. Der Roman schickt seinen Helden wie eine Sonde zurück an einen Wendepunkt deutscher Befindlichkeit, lädt den Leser ohne große Worte zu einer Pendelbewegung zwischen damals und heute ein, nimmt nichts allzu ernst, diffamiert aber auch nichts und niemanden.

    „Wie hatte es im Reich der Großen Proletarischen Kulturrevolution geheißen? Tunnel graben und Vorräte anlegen!“, an diese Parole kann sich Richard noch erinnern – aber welche K-Gruppe sie einmal ausgegeben hat, das weiß er nicht mehr. Ohnehin ist er auch in jüngeren Jahren niemals ein verlässlicher Revolutionär gewesen und hat sich bei Demonstrationen zuletzt stets dort am wohlsten gefühlt:

    (…) wo er dann auch an Gunter geraten war: bei einem spontan zusammengewürfelten, nahezu volkstümlichen Ensemble mit offenen Rändern, das mit Trommeln und Trompeten, mit Saxophonen und mit hausgemachten Instrumenten die Kundgebungen teils rhythmisch, teils melodisch untermalte, von Richards Chef neulich Spielmannszüge geheißen und ins Karnevalistische abgeschoben.
    (…)
    Überzeugen, das wusste schließlich jede und jeder, war unfruchtbar, es kam darauf an, sich selbst zu verändern und dies ohne Scheu nach außen zu zeigen.

    Im Politischen könne man nicht aufgehen, versichern sich Menschen wie Richard mittlerweile, man könne es zwar eine Weile aushalten, aber aber nach zwei, drei oder fünf Jahren schlage dann eben die „Stunde der Diktatoren“. Wem das nicht liegt, dem bleibt das Private – und daran leidet Richard gegen Ende seines vierten Lebensjahrzehnts erkennbar intensiver. Ist es milder Spott oder auch schon eine Diagnose, wie Jürgen Theobaldy seinen Richard nicht nur vor gesellschaftspolitischem Fragen, sondern auch vor den Forderungen der Liebe verzagen, manchmal auch versagen lässt? Es steht jedenfalls in der langen Tradition von Theobaldys früheren Romanen und Erzählungen, die ebenso wenig Sätze brauchen, wie dieser schmale neue Roman, wenn sie Milieus und Verhaltensweisen ausleuchten.

    Verwirklichung der emotionalen Selbstbestimmung

    In „Sonntags: Kino“ von 1978 beschreibt er beispielsweise die Welt seiner Jugend in Mannheim in den Fünfzigern, Stickigkeit, Aufmüpfigkeit und verklemmte Sexualität in einem Milieu, das man heute neudeutsch mit dem Wort „bildungsfern“ geißeln würde. Von solchen Verhältnissen, von unbeholfenen Knutschereien in Hausfluren oder Schlägereien unter Gleichaltrigen ist Richards Biotop weit entfernt – das immerhin ist ein Erfolg der angestrebten Befreiungen –, aber souverän ist er in Beziehungsfragen deswegen noch lange nicht.

    Die Verwirklichung der emotionalen Selbstbestimmung hinkt den Idealen und dem Verbrauch von Lebensabschnittspartnern deutlich hinterher, aus vielen guten Absichten und kräftigen Impulsen scheinen vor allem Liebesleid und eine gewisse Unverbindlichkeit im Alltagsleben hervorzugehen. In einem Roman von Michel Houellebecq würde das dramatisch zugespitzt – Jürgen Theobaldy skizziert das mit leichter Hand, in dem er einige der Formeln herbeizitiert, in denen diese Generation gelernt hat, sich selbst ihre Beziehungsmuster zu erklären.

    Als junger Mann hat Richard Mona kennengelernt, sich an ihrer Freizügigkeit berauscht und eine kurze Zeit intensiver Zweisamkeit mit ihr erlebt. Aber schon nach zwei Sommern droht das Interesse aneinander nachzulassen, die Phasen des Schweigens zwischen den beiden bedeuten nicht mehr, dass die Nähe wächst, sondern dass die Distanz zunimmt- und in seinem eigenen Notizbuch kann Richard Jahrzehnte später nachlesen, dass das wohl auch an ihm gelegen hat:

    Einmal wollte Mona wissen, was ich an ihr liebe, wenn ich schon nicht sagen könne, warum ich sie liebte, weil mir alles, was mit dazu einfiel, zu floskelhaft war. Und ich war erleichtert, dass sie sich von dem, was ich aufzählte, entzücken ließ.

    Richard verklärt Mona

    Sie gehen auseinander, Mona verlässt die Stadt und verschwindet im fernen Südamerika, Richard unternimmt keinen Versuch mehr, den Kontakt aufrechtzuerhalten. Mona wird ihm zur Ikone – er hat ein einziges Foto von ihr, achtzehn Jahre alt, mit offener Bluse, das steht auch 1989/90 noch immer neben seinem Bett. Andere Bilder von Mona hat er nicht – seine Verklärung, seine immer wieder mal aufflammenden inneren Dialoge mit ihr, mit der fernen Frau, ranken sich um eine Gestalt, die nur mehr in seiner Imagination zu bestehen scheint. Gunter erklärt ihm, er solle endlich loslassen, denn das führe zu nichts. Richard aber wahrt eine seltsame Art von Treue im Geist, wenn auch nicht im Körperlichen. Ganz im Reinen ist er dabei mit sich selbst aber nicht:

    Tatsächlich, räumte er ein, als er mit der Ofenklappe die schmauchende Luke schloss und Gunter hinten in der Küche die leere Tüte wegpackte, all die Jahre war er ohne sie, ich war, Mona, durchaus und ganz gut ohne dich ausgekommen. Jedes dieser Worte sprach er sich insgeheim vor, während er sich in sein Zimmer zurückzog und Gunter wohl eben die Reihe Gewürzdosen durchging. Aber es war dir nur scheinbar gut dabei gegangen, so flüsterte ihm die Gegenstimme zu, die auch nach seiner Stimme klang, und Richard kam sich überboten vor, ein verkannter Wohltäter, der im Keller eines Abbruchhauses hauste, sich selbst gut zuredete, solange er die Hände über dem Flämmchen einer mickrigen Kerze rieb. Dass sich die einmal mit Mona genossenen Freuden später mit anderen Frauen nicht bruchlos hatten fortsetzen, geschweige denn verfeinern lassen! So wenig hatte er gewusst von dem, worauf es ihm selbst vor allem ankam, er hatte nicht einmal erahnt, wie viel ihm damals schon zugekommen war. Dennoch hatte er, auch um seinen Empfindungen für Mona zu trotzen, nie an die eine einzige, ihm und allen vorbestimmte Liebe glauben wollen, die Liebe war nicht nur einmal zu durchleben, sie blieb das unwiederbringliche Abenteuer, das gegen alle soziologischen Erhebungen nicht in einer Zweckgemeinschaft mit erlöschenden Zwecken auslaufen musste.

    Die wahren Empfindungen und die Ansprüche an die Selbstverwirklichung fern von aller bürgerlichen Routine kollidieren. Erst weht Richard sich gegen die Gefühle für Mona, die ihn zu überwältigen drohen, und als es mit der Liebe dann vorbei ist, verklärt er Mona so sehr, dass keine andere Frau neben dem Bild von ihr bestehen kann. Die Liebe wird in der Theorie ins Übermenschliche erhöht, in der Praxis schrumpfen die nachfolgenden Paarbildungen zu befristeten Arrangements.

    Als er dann aber hört, Mona sei nach Jahren in die Stadt zurückgekehrt, läuft er durch die Stadt als könne an jeder Ecke seines Kiezes ihr Gesicht wieder auftauchen, als müsse er sie überall suchen, wo sie – so hofft er – auch nach ihm suchen wird. Er sucht sie in Kneipen und lässt andere Frauen umstandslos fallen, er hofft auf ein Lebenszeichen von der fernen Mona, wenn er anonym einen kurzen Brief mit der Aufforderung zu einem Date erhält – und weiß nicht, was er denken soll, als er merkt, dass diese Nachricht nicht von der ihr, sondern von der sehr nahe gerückten Johanna stammt, die er als Freundin seines WG-Genossen schon ziemlich gut kennt:

    Sicher war es romantischer Irrglaube, die Begehrte verspüre immer etwas von den Empfindungen, die sie im Begehrenden wecke, in sich selbst. Aber nicht nur darum hatte Richard fast nur dann einer Frau in die Augen geschaut, wenn er sich von ihr dazu ermuntert fühlte; er wollte niemanden belagern, nicht am Widerstand die eigene Lust an der Eroberung anstacheln und steigern (…). Er wollte weder verführen noch sich bestimmen lassen und suchte diese Spannung aufzulösen in einem Zusammensein mit gleichen Ansprüchen für beide, und so langsam schien das sogar mehrheitsfähig zu werden.

    Richard müsste erst einmal sich selbst etwas abfordern

    Klingt vernünftig, aber bestimmt nicht leidenschaftlich – und ist deshalb wohl als „Rationalisierung“ einzustufen. Richard ist schon zufrieden, wenn er das Gefühl hat, dass er und eine aktuelle Freundin sich nicht nur „als Ersatz“ für jemand anderen betrachten. Sein WG-Genosse Gunter überwirft sich dagegen meist schon im ersten Urlaub mit seinen Freundinnen, schimpft auf Frauen, die zu oft das Wort „Kind“ im Gespräch fallen lassen, geht aber, so scheint es Richard, durch sein Leben, wie einer, der nichts bedauert, sich nicht langweilt und jederzeit Verantwortung übernehmen kann, wenn das gefordert ist. Was lässt sich daraus lernen? Lässt sich daraus etwas lernen?

    Richard müsste erst einmal sich selbst etwas abfordern, auch wenn in ihm niemals ein Macher, sondern eher ein Künstler, ein Dichter, verborgen ist. Wie es dahin kommt, dass ihm das gelingt, soll nicht verraten werden – nur soviel: Es dauert. Und es sind viele kleine Schritte, die Jürgen Theobaldy schon in den Überschriften der kurzen Kapitel seines Romans in ihren Qualitäten deutlich macht. Sie reichen von „Winterlicht“ bis zur „Mittagssonne“ und setzen Richards Schicksal in ein freundliches Licht.

    Am Ende lässt er ihn sogar mit einer der vielen Frauen, die in dem Buch eine Rolle spielen, glücklich vereint auf der „stadtabgewandten Seite des Tages“ zurück. Wer will, darf darin einen Nachhall von Nicolas Borns hochgelobtem Roman von 1976, „Die erdabgewandte Seite der Geschichte“ erkennen, damals einer äußerst bitteren Bilanz der Liebesunfähigkeit und der neuen Freiheiten der jüngeren Generation. „Aus nächster Nähe“ wendet das gleiche Thema nun gnädig und sanft ins Positive und versöhnt den Helden mit all den Unzulänglichkeiten, die ihn ausmachen, und die er deshalb auch nie wird ablegen können:

    Schluss mit Ausflüchteleien! Richard würde sich schon durchschlagen bis zum Bleibtreu, er war vielleicht gar nicht verwundbar auf diesem Weg, und ein Termin, der sich nicht hätte aufschieben lassen, stand weder heute noch morgen an. Mochte die Person, diese Frau, auch pokern, Richard wollte ihre Karten offen auf dem Tisch sehen. Er war vogelfrei, ha, wenngleich kein Prinz.

    Jürgen Theobaldy: Aus nächster Nähe.
    Roman, Verlag Das Wunderhorn, Juni 2013, 184 Seiten, Hardcover, 19,80 Euro

    #Berlin #Taxikollektiv #Roman

  • Faust in der Tasche
    https://www.spiegel.de/politik/faust-in-der-tasche-a-222ec4d1-0002-0001-0000-000014327877

    22.2.1981 - DER SPIEGEL 9/1981 - Die Sozialdemokraten versuchen, Kontakte zur alternativen Szene zu knüpfen.

    Sie gründeten Mietervereine und Genossenschaften, inszenierten Theaterstücke und stählten ihren Leib in eigenen Vereinen. Sie ließen ihren Nachwuchs in Kinderrepubliken Demokratie erproben und sorgten in Wohlfahrtsorganisationen für sozial Benachteiligte — die Sozialdemokraten zu Anfang dieses Jahrhunderts.

    Sie bauen Wärmepumpen und Windräder, plombieren in genossenschaftlichen Praxen Zähne, kümmern sich um alleinstehende Alte. Sie instandbesetzen leerstehende Häuser, holen Fixer von der Droge, verwalten ihre eigene Kreditbank — die Alternativen, achtzig Jahre später.

    Doch über den gemeinsamen Ausgangspunkt hinaus verbindet Genossen und Alternative bislang wenig. Für die meisten Sozialdemokraten ist die neue Gegenkultur Schwärmerei, der Rückzug aus herkömmlicher Politik eine S.42 »bürgerlich-romantische Antwort auf die Krise unseres Industriezeitalters« (der schleswig-holsteinische SPD-Fraktionschef Klaus Matthiesen). Dem Durchschnittsgenossen steht der Arbeitersohn aus Gelsenkirchen, der täglich zur Uni Bochum pendelt, näher als die Industriellentochter, die in einer Frauenbudike Berlin-Kreuzbergs Mollen zapft.

    Was die Jugendlichen ihrerseits von der Politik der SPD halten, schildert Thomas Krüger, Berliner Alternativer: »Ein neues Jugendzentrum kann die arbeitslosen Hauptschulabgänger nicht über die Trostlosigkeit ihrer Situation hinwegtrösten, die neueste Hochschulreform den Studenten nicht eine sinnvolle Perspektive geben, ein neues Krankenhaus nicht den zunehmenden Streß am rationalisierten Arbeitsplatz wegkurieren, ein saniertes Stadtviertel nicht die zunehmende Isolation verhindern.« Die SPD sei, so Krügers Schluß, für die Alternativen »langweilig«.

    Der designierte SPD-Bundesgeschäftsführer Peter Glotz: »Es ist so, als ob sich Chinesen mit Japanern verständigen sollten.«

    Jetzt beginnen allmählich Versuche zu dolmetschen. Seit einigen Monaten sind die Genossen bemüht, die Kluft zu überwinden. Minister laden Alternative zu Diskussionen in ihre Amtsstuben, Funktionäre debattieren in Programmkommissionen über die Bewegung, Parlamentarier besuchen Wohngemeinschaften und Arbeiterkollektive in den Mietskasernen und Hinterhöfen von Berlin, Frankfurt oder Köln.

    Die Sozialdemokraten haben erkannt, daß in dem Milieu der Alternativen mittlerweile über 200 000 Bürger praktizieren, was ihrer Partei nicht immer fern war: Suche nach neuen Lebensformen, Solidarität ohne bürokratische Hemmnisse — etwa wenn die Berliner »Fabrik für Kultur, Sport und Handwerk« in einer von Eltern verwalteten Privatschule neue Unterrichtsformen für Grundschulkinder erprobt, das Berliner Taxi-Kollektiv NeTaKo »nicht profitorientiert« die Mitbestimmung im kleinen versucht oder die Gruppe »Offensives Altern« sich um Seniorinnen bemüht.

    Johano Strasser, Mitglied der SPD-Grundwertekommission: »Wir brauchen den Kontakt zu den Gruppen, um unser Fortschrittskonzept zu überdenken.« Hamburgs Bürgermeister Hans-Ulrich Klose assistiert: »Von den alternativen Gruppen können wir lernen.«

    Die Sozialdemokraten treibt freilich nicht nur Sympathie für die Gegenkultur um, sondern auch Sorge um die Nachwuchslinken.

    Die alternative Bewegung, befand der linke SPD-Bundestagsabgeordnete Karsten Voigt bereits 1979, sei zwar zu klein, um parlamentarische Mehrheiten bilden zu können, aber: »Sie ist groß genug, um auf lange Zeit hinaus eine parlamentarische Mehrheitsbildung unter Führung der SPD blockieren zu können.«

    Der damalige Berliner Wissenschaftssenator Peter Glotz im gleichen Jahr: Es sei eine »tödliche Gefahr«, wenn zwischen drei und fünf Prozent des linken Potentials »auf Dauer ausfielen«, wenn 20 oder 30 Prozent der jungen Generation sich daran gewöhnten, »alternativ« oder gar nicht zu wählen.

    In einer Analyse zu den Abgeordnetenhauswahlen im März 1979, bei denen die Alternative Liste 3,7 Prozent S.44 erhielt, sahen die Berliner Sozialdemokraten durch die neue Konkurrenz gar »die Existenzgrundlage der Sozialdemokratie« gefährdet.

    Das Problem ist auch nach dem Zerfall bei den Grünen nicht aus der Welt. Zwar haben bei den Bundestagswahlen im Oktober letzten Jahres 48,9 Prozent der Jung- und Erstwähler die Genossen gewählt, aber nur, so weiß der neue Parlamentarische Staatssekretär im Bonner Bildungsministerium, Eckart Kuhlwein, »mit der Faust in der Tasche«.

    Bernd Schoppe, Referent in der SPD-Zentrale: »Der hohe Anteil der Jungwählerstimmen für die SPD ist eher ein Indiz für die Ablehnung von Strauß als ein Indiz für eine starke positive Orientierung des Jugendlichen auf die SPD.«

    Nach den jüngsten Erkenntnissen im Erich-Ollenhauer-Haus würden unter den 18- bis 25jährigen derzeit rund acht Prozent keine der etablierten Parteien wählen. Vor allem in den Stadtstaaten Bremen, Hamburg und Berlin komme das Problem, so ein SPD-Stratege, »ganz massiv auf uns zu«.

    Meinungsforscher ermittelten, bei dem Berliner Votum am 10. Mai könnten die Alternativen 13 Prozent erreichen — und damit im Parlament die dritte Kraft spielen, als Koalitionspartner der Etablierten oder als Oppositionspartei, die eine Große Koalition des Partei-Establishments erzwingt.

    Eine Hoffnung haben sich die Genossen jedoch schon abgeschminkt: Innerhalb kurzer Zeit können die abgedrifteten Jugendlichen für die Partei nicht wiedergewonnen werden. Schoppe: »Auf der Tagesordnung steht nicht, junge Leute von der Richtigkeit sozialdemokratischer Positionen zu überzeugen — dieser Zug ist längst abgefahren.« Zunächst müßten die Sozialdemokraten versuchen, mit den jungen Leuten wieder ins Gespräch zu kommen.

    Um seinen Genossen die Scheu zu nehmen, macht Strasser bei seinen Vorträgen in Ortsvereinen und Arbeitsgemeinschaften »Reklame für die Alternativen«. Zudem versucht der linke Parteitheoretiker auf Seminaren der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung Jugendliche aus dem Sub-Milieu und Sozis einander näherzubringen.

    Einen anderen Weg geht Bildungsminister Björn Engholm. Noch als Parlamentarischer Staatssekretär bot er an, »bildungspolitisch relevante« Projekte aus der alternativen Szene mit 200 000 Mark aus seinem Etat zu fördern -um ein »bescheidenes Beriechen« zu ermöglichen, »ohne politische Hintergedanken oder Vorbedingungen«.

    Über Szenen-Kenner wie den einstigen SDSler Bernd Rabehl und den Politologen Tilman Fichter gelang es den Ministerialen, Fäden ins Milieu zu spinnen und ein paar Alternativler unter dem Siegel der Verschwiegenheit zu einem Treffen im Jugendbildungszentrum Oberursel zu bewegen. Es kamen unter anderen: die Arbeiterselbsthilfe Frankfurt, ein von ehemaligen Arbeitslosen verwalteter Handwerksbetrieb, die Schäfereigenossenschaft Finkenhof, das Autonome Bildungszentrum (ABC) Hamburg, spezialisiert auf Seminare für Jugendliche.

    Doch die Diskussion blieb ergebnislos: Die Bonner blieben auf ihrem Geld sitzen, ihre Gesprächspartner verweigerten sich. Zu groß war die Furcht, durch die »Staatsknete« (Szenen-Jargon) korrumpiert zu werden. Das Ministerium, so das ABC Hamburg, S.46 wolle doch nur versuchen, »die Jugend wieder stärker in dieses Gesellschaftssystem zu integrieren«. Zudem stifte »ein so großer Batzen Geld Unruhe bis hin zur Zwietracht«.

    Mittlerweile aber deutet sich ein Sinneswandel an. Die »Fabrik« akzeptierte 100 000 Mark des Berliner Senats sowie einen Kredit in gleicher Höhe, um gemeinsam mit der Technischen Universität eine Wärmepumpe zu entwickeln. Und ein Arbeitskreis »Finanzierung von Alternativprojekten« schlug in Berlin vor, die Bewegung müsse »den Kampf um Steuergelder aufnehmen — bei gleichzeitiger Wahrnehmung der Autonomie«.

    Kämpfen wollen unter anderem soziale Gruppen wie der Verein zur Beratung Drogenabhängiger, der Arbeitslosenladen Kreuzberg, die Beratungsstelle für Schwule und Lesben, der Stadtteilladen »Langer Erdmann«, aber auch politische Vereinigungen wie die Arbeitsgemeinschaft »Bürger beobachten die Polizei« oder das »Komitee für Grundrechte und Demokratie«.

    Ihre »gesellschaftlich sinnvolle Arbeit«, so die Begründung, leisteten sie zur Zeit unter Bedingungen, die »persönlich, beruflich und politisch auf längere Sicht kaum oder nur sehr schwer durchzuhalten« seien. Denn es fehle häufig selbst am Nötigsten, für Miete und Porto. Wenn sich die Lage nicht ändere, befand der Arbeitskreis, bestehe die Gefahr, daß die Berliner alternative Szene »zum omnibus-verglasten Zoo-Programm« für Touristen verkomme.

    Ein Befürworter der Staatsknete ist der Berliner Sozialwissenschaftler Peter Grottian, Mitglied des »Netzwerks Selbsthilfe«, eines Hilfsfonds für alternative Projekte (SPIEGEL 40/1980). Wenn die Sozialdemokraten in größerem Umfang Projekte förderten, so seine These, könnten sie in den von ihnen regierten Ländern bessere und effektivere Sozialarbeit leisten.

    So unwahrscheinlich ist dies nicht. Denn die Alternativen haben sich Sektoren erschlossen, in denen staatliche Helfer weitgehend machtlos sind. Beispiel: Während Sozial-Inspektoren gegen prügelnde Eltern nur mit Anzeigen oder dem Entzug des Sorgerechts vorgehen können, versucht das Berliner Kinderschutz Zentrum unter strenger Diskretion mit Beratung und Therapie zu helfen.

    Noch aber sind selbst die Bedingungen einer Finanzhilfe für alternative Projekte nicht geklärt. So muß die staatliche Seite aus haushaltsrechtlichen Gründen prüfen, ob die Mittel sinnvoll ausgegeben werden, einige Gruppen dagegen wollen aus Angst um ihre Unabhängigkeit lieber ohne Auflagen kassieren.

    Einen Befürworter haben sie bereits in den Reihen der SPD: den Vorsitzenden der Jungsozialisten Willi Piecyk: »Wir sollten die Musik bezahlen«, so der Juso-Chef, »aber die Leute spielen lassen.« Auf diese Weise könne die SPD beweisen, daß sie es mit ihrem Dialog-Wunsch ernst meine.

    Um die Glaubwürdigkeit der Partei geht es auch SPD-Referent Bernd Schoppe. Er plädiert dafür, daß sich Mandatsträger in Zukunft häufiger in Jugendzentren sehen lassen und mehr mit jungen Leuten diskutieren.

    Vor allem sollten die Funktionäre öfter Themen ansprechen, die Jugendliche besonders berühren, etwa Umweltschutz, Friedens- und Abrüstungspolitik.

    Da haben die Genossen derzeit freilich schlechte Karten.

    #Berlin #Politik #Alternative_Liste #SPD #Taxi #Taxikollektiv #1981

  • An der falschen Halte
    https://taz.de/Archiv-Suche/!456999

    23.3.2006 - In den 80er-Jahren konnte man mit Taxifahren mehr verdienen als bei einem guten Bürojob. Heute ist es oft nur versteckte Arbeitslosigkeit. Dennoch hat das kurze Kutschieren fremder Menschen seinen Reiz: Für Sigrid Sokoll ist es „pures Abenteuer“

    Statt alle vier Jahre ein neues Taxi zu kaufen, müssen die Wagen heute bis zum Zusammenbruch halten

    von CHRISTOPH VILLINGER

    Warten. Taxifahren heißt warten. Mindestens drei Viertel ihrer Zeit stehen die Berliner TaxifahrerInnen im Schnitt an der „Halte“ – so die allgemeine Erfahrung – und langweilen sich. Lesen Zeitung, lösen Sudoku-Rätsel. Frieren manchmal. Und warten. „Steigt dann nach einer Stunde endlich jemand in die Taxe, geht’s auch nur für 5,40 Euro ins nahe Urban-Krankenhaus“, erzählt Sigrid Sokoll, die an der Halte „Zossen“, Ecke Gneisenaustraße, mitten in Kreuzberg, wartet. „Davon kannst du nicht leben“, sagt die 57-Jährige.

    Einen Stundenlohn von 10 Euro brutto hält sie für ihre Arbeit für angemessen. Ihr Taxikollektiv, die Kreuzberger Taxigenossenschaft (KTG), für die sie seit 1998 fährt, kann ihr gerade noch 6 Euro brutto ausbezahlen – und das mit Mühe. Das entspricht bei den angestellten FahrerInnen etwa 40 Prozent der Tageseinnahmen.

    „Sicher gibt es Ausnahmen“, erzählt ihre Kollegin Christel Janke, die seit 20 Jahren Taxi fährt. An diesem Morgen hatte die 58-Jährige zum Beispiel Glück. „Eine Tour von Kreuzberg nach Hennigsdorf macht 38 Euro.“ Aber am Nachmittag waren es nach acht Stunden Arbeit auch nur 68 Euro Umsatz auf dem Taxameter. „Hast dich eben an die falsche Halte gestellt“, scherzt ihre Freundin.

    An der falschen Halte stehen die über 6.500 Taxen in Berlin viel zu häufig. Wenige Ausnahmetage, wie zurzeit der Berlinale oder der Grünen Woche, lösen das strukturelle Problem des Berliner Taxigewerbes nicht. Die Mehrheit der Bevölkerung hat schlicht und einfach nicht das Geld für „diesen Luxus“. Zudem gebe es rund 1.000 Taxen zu viel in der Stadt, sagt der Taxiverband Deutschland.

    Im alten Westberlin war es kein Problem, in wenigen Stunden 200 Mark Umsatz zu machen und davon als von der Sozialversicherung befreite Studentin sogar über 50 Prozent behalten zu dürfen. Der Stundenlohn der KTG betrug bereits Anfang der 80er-Jahre um die 15 Mark, und trotzdem erwirtschaftete der Betrieb Gewinne.

    Damals hatten die Menschen einfach mehr Geld zum Ausgeben – auch für Taxis. Heute muss jede Fahrerin einen vollen Tag oder eine Nacht arbeiten, um mühsam und mit Glück über 100 Euro Umsatz zusammenzufahren. Die schwierige finanzielle Lage der Branche zeigt sich inzwischen auch an den Autos: Statt alle vier Jahre einen neuen Wagen zu kaufen, müssen sie heute halten bis zum Zusammenbruch. Über 650.000 Kilometer hat das liebevoll nach seiner Funknummer „1432“ genannte Mercedes-Taxi der KTG inzwischen auf dem Buckel.

    „Trotzdem macht mir der Job eigentlich Spaß – damals wie heute“, sagt Christel Janke. 1986 hat sie nach drei Monaten Lernen ihren P-Schein, den Personenbeförderungsschein, gemacht. Janke studierte damals Landschaftsplanung, später stieg sie auf Politikwissenschaft um, aber das Taxifahren wurde immer mehr zum Mittelpunkt des Erwerbslebens. „Nachdem ich eine Weile bei diversen Kleinbetrieben und einem Frauen-Taxi-Kollektiv gefahren bin, hab ich mich 1991 exmatrikuliert und dann selbstständig gemacht“, erzählt Janke. Ihr Wunsch damals: ohne allzu große Aufregung und Stress als Alleinfahrerin den Lebensunterhalt sichern.

    Das ist inzwischen eine Illusion. Auch sie kann von der Fahrerei nicht leben: „Ohne einen finanziellen Zuschuss der Familie würde es nicht gehen.“ Und wegen ihrer Gesundheit darf sie auch nicht endlos in der Taxe sitzen „wie andere Kollegen, die täglich zehn bis zwölf Stunden auf dem Bock hocken und trotzdem ihre Familie nicht ernähren können“. „Eigentlich hätten viele TaxifahrerInnen Anrecht auf ergänzendes Arbeitslosengeld II“, meint sie. Sigrid Sokoll, die vor zwölf Jahren ihren P-Schein gemacht hat, gehört zu dieser Gruppe. Sie fährt noch 15 Stunden die Woche, den fehlenden Rest deckt sie mit „ergänzendem Arbeitslosengeld II“ ab.

    Mit wildfremden Menschen für kurze Zeit in ein intensives Gespräch kommen zu können, das macht für Sokoll den Reiz am Taxifahren aus. Reihenweise Anekdoten kann sie darüber erzählen. Etwa die von dem über 90-jährigen Rentnerpaar, das Sokoll vor einigen Jahren an der Love Parade vorbeifuhr. „Ach, wir haben schon den Rock ’n’ Roll nicht verstanden, was sollen wir uns darüber aufregen“, kommentierten die zwei das Techno-Event. Diese Erlebnisse und die gewisse Anerkennung, die sie immer wieder für ihre Arbeit erfährt, sind Sokoll wichtig.

    Da widerspricht Christel Janke. Sie hat oft das Gefühl, in die „unterste Kaste gesteckt zu werden“. Die scheinbare Bewunderung, wie mutig es sei, als Frau Taxi zu fahren, verletze sie eher. Sie fühlt sich weniger gesellschaftlich anerkannt, „eher verkannt“. Besonders seit die Bundesregierung nach Berlin gezogen sei, spüre sie einen Drang zur Elitenbildung, die am Beruf gemessen werde. „Wie oft werde ich gefragt, was ich vorher gemacht habe – als wäre Taxifahren ein Hilfsarbeiterjob.“ Dabei ist sie heilfroh, nicht in einem Büro sitzen zu müssen – und Pause machen zu können, wann sie will.

    Sigrid Sokoll würde am liebsten viermal pro Monat am Wochenende fahren, „so wäre es das pure Abenteuer“. Doch inzwischen schränkt auch sie ihre Gesundheit ein: Der körperlich sehr belastende Job fordert seinen Tribut. „Ich bin um 6 Uhr morgens bei minus 8 Grad am Innsbrucker Platz gestanden und schwitzte im Hochsommer bei Plus 35 Grad am Ostbahnhof in der Sonne.“

    Die Hoffnung auf einen anderen Job hat Sokoll aufgegeben. „Und ich kann jedem Taxifahrer, der einen anderen Job findet, nur empfehlen, diesen anzunehmen“, sagt Sokoll. Melancholisch erzählt sie von einer anderen Kollegin, die in den 80er-Jahren ihren normalen Beruf hinschmiss, weil sie mit Taxifahren genauso viel verdiente, ja sogar noch etwas für die Rente sparen konnte. „Heute zahlt sie von dem Gesparten ihre Miete. Nichts wird’s mit der Rente.“

    An eine arbeitsfreie Altersruhe glauben beide nicht mehr. „So oder so werde ich arm sein“, meint Sokoll, „und deshalb weiterfahren müssen. Ich habe dann aber wenigstens zwei, drei Tage bezahlte Unterhaltung im Alter.“

    #Taxi #Berlin #2006 #Arbeit #Taxikollektiv

  • Black-Lives-Matter-Logo auf Taxi: Der Aufkleber bleibt - taz.de
    https://taz.de/!5716371

    28. 9. 2020 von KATHARINA SCHIPKOWSKI - HAMBURG taz | Wenn eine Taxifahrerin den Namen ihres Fußballvereins auf die Tür ihres Taxis kleben will, kann sie das tun. Genauso könnte jede Glückskeks-Weisheit dort stehen oder Werbung für Produkte oder Firmen. Was dort aber nicht stehen darf: ein Black-Lives-Matter-Motiv. Ein Taxifahrer-Pärchen aus Hamburg muss sich wohl bald vor Gericht verteidigen, weil auf ihren Fahrzeugen das Symbol der Bewegung für die Rechte schwarzer Menschen abgebildet ist.

    Christiane und Bernd Nolte haben in den 80er Jahren „Das Taxi“ als eigenständige linke Genossenschaft gegründet, 2017 wurde der Betrieb von Hansa Funktaxi geschluckt. Ende der 80er Jahre fuhr die Flotte von „Das Taxi“ mit taz-Werbung – was erlaubt war, denn die Aufkleber der taz waren bezahlt und nicht als politisches Statement zu verstehen. Genau hier liegt für die Hamburger Behörden das Problem mit den Black-Lives-Matter-Aufdrucken auf den Taxis der Noltes.

    Taxifahrer*innen müssen sich an Vorschriften halten, was die Außengestaltung ihrer Fahrzeuge angeht. Die Verordnung über den Betrieb von Kraftfahrunternehmen im Personenverkehr schreibt unter anderem die Lackierung in dem typischen hell-elfenbeinfarbenen Ton und ein Schild auf dem Dach vor. Werbung an der Außenfläche ist auf den Türen prinzipiell zulässig – „politische und religiöse Werbung“ ist allerdings verboten. Für Nahverkehrsbusse gilt das nicht, weshalb etwa die Stadt Hamburg zum diesjährigen Christopher Street Day mit viel PR und der Großunternehmerin Olivia Jones den Pride-Bus in Regenbogenfarben präsentierte.

    Pride-Werbung auf Bussen ist also okay, Werbung für die Rechte Schwarzer Menschen auf Taxen nicht? „So ist es, obwohl wir natürlich ebenso hinter dem Anliegen von Black Lives Matter stehen“, sagt der Sprecher der Hamburger Verkehrsbehörde Dennis Heinert. Bei der Strafandrohung an die Noltes habe es leider keinen rechtlichen Spielraum gegeben.

    Bis zu 10.000 Euro
    Doch das Verbot politischer Werbung hat Christiane Nolte schon im 2015 nicht daran gehindert, Aufkleber der Gruppe „Lampedusa in Hamburg“ auf ihr Taxi zu kleben. Die Lampedusa-Gruppe von rund 300 Geflüchteten kämpft seit ihrer Ankunft 2014 in Hamburg um ein kollektives Bleiberecht. Die Aufkleber brachten Nolte zwei Gerichtsverfahren, die sie verlor, und einen Bußgeldbescheid ein.

    In einem anderen Verfahren hatten die Noltes jedoch Erfolg: 1995 fuhren sie und sechs andere Mitarbeiter*innen von „Das Taxi“ mit den Aufklebern „Alle Rassisten sind Arschlöcher. Überall“ der Hamburger Beratungsstelle für Geflüchtete „Café Exil“. Ein Kollege hatte sie deshalb angezeigt, die Behörde verhängte 275 Mark Bußgeld gegen die Fahrer*innen. Doch ein Amtsrichter entschied, dass die Aussage nicht politisch zu werten sei, da ihr jede*r folgen müsste, der auf dem Boden der Verfassung stünde. Politische Werbung setze hingegen voraus, „daß sich der Inhalt der Äußerung von anderen politischen Überzeugungen und Organisationen unterscheiden läßt. Daran fehlt es.“ Das, meinen die Noltes jetzt, müsste doch auch für die „Black Lives Matter“-Aufkleber gelten.

    Die Rechtsabteilung der Hamburger Verkehrsbehörde sieht das anders. „Ich rate Ihnen dringend, die Aufkleber sofort – noch heute – von den Taxen zu entfernen“, schrieb der Justiziar den Noltes im Juli. Sie hatten sich selbst bei der Behörde gemeldet, um ein erneutes Bußgeld zu vermeiden.

    „Wenn eines Ihrer Taxen mit dem Motiv von einem Polizeibeamten oder der Verkehrsgewerbeaufsicht angetroffen werden sollte, wird eine Anzeige wegen Verstoßes gegen politische Werbung unausweichlich sein“, droht der Justiziar. Und wendet sich direkt an Christiane Nolte: „Sie sind ja in der Vergangenheit bereits mit sogenannten Lampedusa-Aufklebern an Ihren Taxen aufgefallen.“ Angesichts dieser „einschlägigen Vorbelastung“ würde das Bußgeld dieses Mal wohl wesentlich höher ausfallen, so der Justiziar – „der gesetzliche Rahmen reicht bis zu 10.000 Euro.“ Zudem müsse die Fahrerin damit rechnen, ihre Zulassung zu verlieren.

    Die Noltes, deren Betrieb heute zu Hansa Funktaxi gehört, lassen sich davon nicht abschrecken. „Wir lassen die Aufkleber dran“, sagt Bernd Nolte der taz. Nur den Schriftzug „Black Lives Matter“ haben sie vorsichtshalber entfernt, weil damals beim Lampedusa-Aufkleber negativ zubuche geschlagen hatte, dass „Lampedusa in Hamburg“ als Verein eingetragen ist. Deshalb wertete der Richter den Aufkleber als Werbung für einen politischen Verein. In den USA gibt es mittlerweile auch Black-Lives-Matter-Vereine, weshalb die Noltes den BLM-Schriftzug entfernten. Das Motiv, auf dem eine schwarze und eine weiße Hand ineinander greifen, prangt dafür jetzt an allen acht Taxis ihrer Flotte.

    #Taxi #Hamburg #Rassismus #Taxikollektiv